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< Zurück zur Übersicht 24.07.2023

Giulia Senn: «Wenn mir das jemand letztes Jahr gesagt hätte…»

Schweizer U23-Rekord über 300 m, U23-EM-Fünfte über 400 m, Staffel-Silber mit Vereinskollegin Lena Wernli im finnischen Espoo: Nach drei schwierigen Jahren präsentiert sich Giulia Senn vor den Schweizer Meisterschaften in der Form ihres Lebens. Was sie noch vorhat, warum sie als einstige Mittelstrecklerin keine 800 m mehr läuft und wie sie den Spagat meistert zwischen Medizinstudium und Leistungssport, verrät die 21-jährige Aufsteigerin im Interview.

Die 4×400-m-Silberstaffel mit Aline Yuille, Lena Wernli, Catia Gubelmann, Giulia Senn und Michelle Gröbli. (Bild: Ulf Schiller / athletix.ch)

Das 44-köpfige Schweizer Team hat an den U23-Europameisterschaften in Espoo (FIN) sechs Medaillen gewonnen und damit so viele wie noch nie. Welcher Moment ist dir noch am präsentesten?

Wahrscheinlich schon der Moment, als wir als Schweizer 4×400-m-Staffel aufgerufen wurden und gemeinsam aufs Podest steigen durften. Leichtathletik ist normalerweise eine Einzelsportart. Umso schöner fand ich es, die Silbermedaille gemeinsam im Team zu feiern.

Wie zufrieden bist du mit deinem persönlichen Abschneiden (Platz 5 in 52,33 Sekunden)?

Aufgrund der Meldeliste (Nummer 3 der Entry List) durfte ich mir durchaus Hoffnungen auf eine Medaille machen. Mein Ziel war es, erstmals unter 52 Sekunden zu bleiben und mich in eine gute Position zu bringen. Nach dem Final war ich erst etwas enttäuscht. Aber wenn mir im letzten Jahr jemand gesagt hätte, ich würde in Espoo Fünfte werden, wäre ich mega happy gewesen.  

Nimm uns nochmals mit in den 400-m-Endlauf gegen 800-m-Überfliegerin Keely Hodgkinson (3.) und Co. Was ging in dir vor?  

Wie immer war ich am nervösesten auf dem Weg zum Aufwärmplatz. Zwischen Warm-up und Call Room kehrt bei mir eher Ruhe ein. Im Vorlauf (53,51) und Halbfinal (53,20) bin ich die ersten 200 Meter rund eine Sekunde zu langsam angegangen als sonst. Im Final wollte ich mehr riskieren, um überhaupt in den Kampf um die Medaillen eingreifen zu können. Leider schoss ich dann etwas gar schnell rein, so dass mir hinten raus die Körner fehlten.

Giulia Senn auf dem Weg in den EM-Final (5.). (Bild: Ulf Schiller / athletix.ch)

Im 4×400-m-Final hingegen ging die Gold-Taktik (fast) auf. Wie sehr ärgern die zwei Hundertstel Rückstand auf die französischen Europameisterinnen?

Logisch, die zwei Hundertstel nach 1600 Metern tun schon ein bisschen weh. Jede von uns hat aber alles gegeben. Von daher haben wir mit Silber und Schweizer U23-Rekord (3:30,62) das Maximum erreicht. Die Französinnen waren einfach noch eine Spur schneller. Der Titel «Vize-Europameisterinnen» tröstet uns darüber hinweg.

Was war anstrengender: deine vier Stadionrunden (inklusive Staffel) oder die Abschlussparty?

Ehrlich gesagt, konnte ich mich zwischen Vorlauf und Halbfinal (am gleichen Tag) sehr gut erholen, weil ich ja nicht ganz am Limit gelaufen war. Nach dem Einzelfinal habe ich die Beine deutlich mehr gespürt, aber dank Lena (Wernli), die bereits im 4×400-m-Vorlauf zum Einsatz kam, hatte ich noch einen Tag Pause bis zum Staffelfinal. Den Abschlussabend verbrachte ich relativ gemütlich mit Lena, Nahom (Yirga) und Lionel (Spitz).

Wie war die Stimmung generell im Schweizer Team? Im Fall von Einzel-Silbermedaillengewinner Lionel Spitz warst du ja die erste Gratulantin.

Lena, Lionel und ich waren schon zusammen am EYOF 2017 in Györ (HUN) und haben seither viele Grossanlässe gemeinsam bestritten, zuletzt im Juni an den Team-Europameisterschaften in Silesia (POL/Neunte im Einzel, Achte im Mixed-Relay). Solche Events verbinden natürlich. Mit meiner Zimmerkollegin Lena verbringe ich auch ausserhalb der Leichtathletik viel Zeit, zum Beispiel, wenn es darum geht, zwischen den Trainings für die Uni zu lernen. Sie fürs Jura-, ich fürs Medizinstudium.

Lena Wernli und Giulia Senn (Mitte) sind auch abseits der Rundbahn gut befreundet. (Bild: Ulf Schiller / athletix.ch)

Mit Staffel-Silber habt ihr euren Trainingskolleginnen Silke Lemmens, Yasmin Giger und Ricky etwas voraus…

Stimmt, aber dafür haben die drei alle schon internationale Einzelmedaillen gesammelt. Das habe ich noch nicht geschafft. Neid gibt es in unserer Trainingsgruppe ohnehin nicht. Im Gegenteil. Wir freuen uns alle für alle. Silke, die ja normalerweise auch 400 m läuft (und mit 52,01 Sekunden den Vereinsrekord hält), hat mir während der EM viele liebe Nachrichten geschickt. Als Gruppe sind wir ein Team, pushen und supporten uns im Training gegenseitig, machen aber keinen Wettkampf draus.  

Du hast deine frühere 400-m-Bestzeit diese Saison um fast zwei Sekunden auf 52,22 gedrückt und im Frühjahr eine gewisse Lea Sprunger als U23-Rekordhalterin über 300 m (37,00) abgelöst. Was hast du dir für die zweite Saisonhälfte vorgenommen?

Zuerst einmal war ich auch positiv überrascht, dass ich in Basel und Langenthal (300 m) so schnell einstieg. Vor dem ersten 400er Ende Mai in Basel fragte ich Flavio (Zberg – ihren Trainer) noch, ob die U23-EM-Limite (53,85) schon drin läge. Ich hätte nicht gedacht, dass ich gleich eine tiefe 52 auf die Bahn bringen würde. Die 52 Sekunden möchte ich diese Saison noch unterbieten und dann hoffe ich natürlich auf meine Titelpremiere bei den Aktiven. Ob es im Einzel für die WM reicht, wird sich zeigen. Als Staffel sind wir ja sicher dabei. Auf den Auftritt im Team freue ich mich besonders.

Giulia Senn steigt am Pfingstmontag mit 52,33 Sekunden auf ihrer Paradestrecke ein. (Bild: athletix.ch)

Schwirrt «Paris 2024» schon im Hinterkopf herum?

Klar, das wär mega cool – auch weil die Spiele geografisch so nahe liegen. Natürlich geben wir alles, um uns Anfang Mai 2024 an den World Relays auf den Bahamas für Paris zu qualifizieren. Dafür mache ich jetzt ein Zwischenjahr. Jeder Sportler träumt von Olympia. Letztes Jahr war dieser Traum für mich allerdings sehr weit weg…   

Du warst EYOF-Sechste (2017), U18-/U20-EM-Teilnhemerin (2018/2019) und mit 17 Jahren schon im Elite-WM-Team 2019 (als Ersatzläuferin). Danach war es lange still um dich. Was ist passiert?

Durch meine leichte O-Bein-Stellung hatte ich immer wieder Probleme mit dem «Runner’s Knee». Links wie rechts. Anfang 2020 sind meine Leistungen dann komplett abgefallen. Nach einem 150-m-Trainingslauf in 20 Sekunden fühlte ich mich wie nach vier 400ern «all out». Ein Bluttest ergab die Diagnose «Pfeiffersches Drüsenfieber». Nach einer längeren Pause konnte ich wieder kurze Sprints machen, aber das war wiederum nicht gut für die Knie, ein solider Trainingsaufbau praktisch unmöglich.

Bewies über Jahre Stehvermögen: Giulia Senn hatte lange mit gesundheitlichen Problemen kämpfen. (Bild: athletix.ch)

Was hat dich motiviert, selbst dann dranzubleiben, als du letztes Jahr die Bahnrunde noch knapp unter 57 Sekunden absolviert hast?

Tief in meinem Inneren wusste ich immer, dass ich schnell laufen kann, wenn ich wirklich fit bin. Ende letzte Saison befand ich mich in einem Motivationsloch und habe mir vor dem Herbsttraining gesagt: Ich investiere jetzt noch zwei Wochen; wenn das Runner’s Knee wiederkommt, wars das gewesen. Nach zwei Wochen war ich immer noch schmerzfrei, nach vier Wochen auch, stattdessen wurde ich immer schneller und fitter. Entsprechend kamen die Freude und Motivation wieder zurück und sind seither nicht mehr verschwunden.  

Ist es ein Vor- oder Nachteil, Medizin zu studieren als Leistungssportlerin?

In meinem Fall ist es sicherlich von Vorteil, dass ich Verletzungen anatomisch nachvollziehen kann und neben dem Sport noch etwas habe, das mich gerade in schwierigen Zeiten ablenkt. Der Nachteil ist die Doppelbelastung. Ausserdem fehlt mir manchmal die Lockerheit im Sport, weil ich mir tendenziell zu viele Gedanken mache. Ab und zu tut es gut, den Kopf einfach auszuschalten. Daran arbeite ich noch.   

Wie bringst du die zwei Karrieren unter einen Hut?

Ich gebe zu, ich bin nicht die Musterstudentin und investiere nur so viel, wie ich muss. Im ersten Jahr habe ich viel gelernt, im dritten und vierten Semester war ich allerdings fokussierter aufs Training. Ich kann nicht wie andere von morgens bis abends in der Bibliothek sitzen und büffeln. Trotzdem mache ich beides gerne und bin nach wie vor motiviert, mein 2020 begonnenes Medizinstudium nach dem bewilligten Zwischenjahr fortzusetzten.   

Startet seit Herbst 2019 für den LCZ: 400-m-Spezialistin und WM-Teilnehmerin Giulia Senn. (Bild: athletix.ch)

Was gefällt dir an den 400 Metern?

Die Disziplin kombiniert Sprint und Lauf. Es gibt kein grosses Taktieren. Wenn ich starte, weiss ich, dass ich nach einer Runde wieder im Ziel bin. In der Halle laufe ich deshalb nicht so gern und 800 Meter wären auch nichts mehr für mich, obwohl ich ursprünglich von den Mittelstrecken komme.

Wie bist du denn zur Leichtathletik respektive zur Stadionrunde gekommen?

Die ersten Berührungen mit der Leichtathletik hatte ich in der Jugi im TSV Rohrdorf. Im Weitsprung und Sprint war ich nicht so schlecht. Mein Vater betreibt Triathlon, also nahm er mich und meinen Bruder auch mal zum Kids-Triathlon mit. Später, in der LV Wettingen-Baden, startete ich am 1000-m-Cup und beim MILLE GRUYÈRE, bevor es Richtung 600 m ging. Hier war ich im Nachwuchs national schon vorne dabei. Anfang Saison 2017 absolvierte ich einen 300er. Mein damaliger Trainer (Beat Füglistaler) meinte danach, ich solle die EYOF-Limite doch im 400er versuchen. So bin ich 400-m-Läuferin geworden.  

Und warum startest du als Aargauerin für den LC Zürich?

2018 schloss ich mich der Gruppe von Flavio (Zberg) an, nach der WM in Doha (QAT) vollzog ich den Vereinswechsel. Als Athletin kann ich mir kein professionelleres Umfeld vorstellen. Für mich war es deshalb selbstverständlich, nicht nur vom LCZ zu profitieren, sondern auch für den Verein zu starten.

Zum Schluss räumen wir noch mit einem Gerücht auf: Welche Sockenfarbe trägst du unter den – weissen – ON-Schuhen?

Grau bis Schwarz (wie das neue LCZ-Trikot). Aber ich bin eben auch im Kanton Zürich aufgewachsen und wohne in Bellikon AG, unweit der Kantonsgrenze zu Dietikon ZH. (lacht)  

(MAS)