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< Zurück zur Übersicht 22.04.2023

Ricky Petrucciani: «Davide würde ich den EM-Titel gönnen, aber…»

Er ist der LCZ-Athlet des Jubiläumsjahres 2022: Ricky Petrucciani, EM-Silbermedaillengewinner in München 2022, U23-Europameister in Tallinn und Olympiahalbfinalist in Tokio 2021. Zwischen zwei Trainingslagern spricht der 22-jährige Viertelmeiler mit uns über seine (fussballerische) Vergangenheit, (leichtathletische) Gegenwart und (hoffentlich goldene) Zukunft.

LCZ-Geschäftsführer Marco Aeschlimann überreicht Ricky Petrucciani den «Res Brügger Kristall» für die beste Leistung im Jubiläumsjahr 2022 (Bild: Samuel Mettler)

Du hast an der 101. LCZ-GV den «Res Brügger Kristall» für die beste Leistung im Jubiläumsjahr 2022 erhalten und bist damit offizieller Nachfolger von Hallen-Europameisterin Angelica Moser. Was bedeutet dir diese Auszeichnung?

Für mich ist der Preis eine grosse Anerkennung meiner Leistung. Klar, nach der EM-Medaille habe ich schon etwas damit geliebäugelt. Umso stolzer bin ich, diesen Platz in der Klubgeschichte einnehmen zu dürfen.

Abgesehen von deiner EM-Silbermedaille in hervorragenden 45,03 Sekunden: Welcher deiner Auftritte stach 2022 für dich noch heraus?

Ich denke, neben den Europameisterschaften konnte ich auch bei Weltklasse Zürich etwas Schönes zeigen. Nach der 4×400-m-Staffel in München (DNF – die Redaktion) war ich angeschlagen. Obwohl ich im Letzigrund körperlich nicht zu 100 Prozent fit an den Start ging, war der Kopf bereit, vor dem Heimpublikum nochmals alles zu geben (Platz 5 beim Wanda Diamond League Final in 45,31 Sekunden).

Auf den Spuren von LCZ-Legende Peter Laeng bei Weltklasse Zürich 2022 (Bild: athletix.ch)

Wie hast du dich nach der Aktiv-SM in Zürich gefühlt, als du deinen Nimbus als nationale Nummer 1 kurzzeitig an Lionel Spitz verloren hast?

Das war eine harte Zeit. Nach der Heim-SM brauchte ich lange, um zu akzeptieren, dass ich die Nummer 2 war. Zum einen freute es mich, dass das Niveau über 400 m deutlich gestiegen ist, zum anderen wollte ich an der WM eine Reaktion zeigen. Die kam allerdings nicht, was das Ganze noch schwieriger für mich machte.  

Wie hast du es dennoch geschafft, pünktlich auf die Europameisterschaften hin zu «peaken»?

Flavio (Zberg) und ich fragten uns nach der WM, was wir besser machen könnten. Bekanntlich ging mir auf den letzten 100 Meter immer der Sprit aus. Mir fehlte aber nicht das Stehvermögen, so meine Analyse, sondern der Speed, vor allem über 200 m. Also schlug ich Flavio vor, dass wir uns im Training mehr auf die Schnelligkeit konzentrieren.

Ein niedergeschlagener Silbermedaillengewinner an den Schweizer Meisterschaften im Stadion Letzigrund (Bild: athletix.ch)

Auf den Speed?

Ja, für mich, der von der Schnelligkeit lebt, eine der wichtigsten – wenn nicht sogar die wichtigste – Komponente über 400 m. Schliesslich handelt es bei der Stadionrunde immer noch um einen Sprint, wenn auch mit sehr viel Laktat in den Muskeln (Ricky kommt auf eine Laktatkonzentration von bis zu 26 mmol/l – die Redaktion).    

Und was sagte dein Coach?

Flavio vertraute mir und stellte ein Programm zusammen mit vielen Sprints, viel Frequenz, aber kurzen Pausen, um die Ausdauer nicht zu vernachlässigen. Das habe ich nach der WM bis zur EM durchgezogen. Nach dem 100er (10,24) in Langenthal wussten wir, dass wir bereit sind.

Wie würdest du eure Athleten-Trainer-Beziehung beschreiben?

Wir arbeiten seit bald sechs Jahren zusammen und kennen einander sehr gut. Zu Beginn setzte ich Flavios Pläne diskussionslos um. Inzwischen versuche ich mich aktiv in die Trainingsgestaltung miteinzubringen, gerade wenn ich nicht bei 100 Prozent bin. Der Coach kann ja nicht wissen, wie ich mich fühle und ist auf mein Feedback angewiesen.    

Die Leichtathletik gilt als Einzelsportart – ohne Team geht es allerdings nicht. Wie wichtig ist für dich die (internationale) Trainingsgruppe mit Davide Re, Victor Coroller und Co.?

Für mich ist die Gruppe sehr wichtig, um sich gegenseitig zu pushen. Klar kann ich auch mal ein Training allein absolvieren, aber besonders bei härteren Einheiten hilft es, wenn du müde bist und siehst, dass die anderen auch leiden und trotzdem 100 Prozent geben. Das motiviert.  

Ricky Petrucciani ist froh um starke Trainingspartner wie Victor Coroller (Bild: athletix.ch)

Warum hast du mit 15 Jahren eigentlich mit Fussball aufgehört? 

Mit zwölf Jahren hatte ich schon Fussball und Leichtathletik parallel betrieben, entschied mich dann aber zunächst für den Fussball, wo ich in der Tessiner U14-Auswahl spielte. Natürlich träumte ich – wie fast jeder Bub – von einer grossen Karriere. Nachdem ich die Aufnahme in die kantonale U16-Auswahl verpasste hatte, fragte mich mein Vater: Warum wechselst du nicht wieder in die Leichtathletik? Schliesslich war ich 2012 bereits Zweiter im nationalen 60-m-Sprint und am Schweizer Final des MILLE GRUYÈRE (1000 m).

Dein alleinerziehende Vater war also dein erster Entdecker und Förderer?

Das kann man sicher so sagen. Mein erster Trainer war jedoch Stefano Angelella, der Vater von Daniele Angelella (Virtus Locarno). Dann bekam ich die Möglichkeit, ein Testtraining bei Flavio zu absolvieren. Geplant waren drei Tage in Zürich. Nach dem zweiten Tag rief ich meinen Vater an und sagte ihm, ich würde gerne in Zürich bleiben.

Erster Gratulant im Münchner Olympiastadion und wichtigste Bezugsperson: Vater Maurizio (Bild: LCZ)

Wie reagierte er?  

Er unterstützte mich von Anfang. Ich rechne es meinem Vater hoch an, dass er einerseits mein Talent erkannte, andererseits bereit war, die sportliche Verantwortung an Flavio zu übergeben und mich mit 17 Jahren nach Zürich ziehen zu lassen – obwohl ich praktisch kein Wort Deutsch sprach und mich in der «neuen Welt» erst zurechtfinden musste. Flavio und mein Vater haben mir auf diesem Weg sehr geholfen. Noch heute pflege ich ein enges Verhältnis zu meinem Vater. Meine Mutter (die in Italien lebt – die Redaktion) sehe ich weniger oft.  

Unterdessen trainierst du nicht nur in Zürich, sondern auch in Cham am OYM. Wo und wie profitierst du vom «High Performance Center»?

Sicher im Kraftbereich. Wenn man die Infrastruktur am OYM betrachtet, muss man sagen: Das ist ein einfach ein anderes Level, speziell auch in Kombination mit den Test- und Datenauswertungsmöglichkeiten. Ein anderer Bereich ist die individuelle Ernährung. Je nach Training empfehlen mir die Köche ein anderes Menü, erklären mir, auf welche Nährstoffe ich achten muss.

Diesen Service geniessen wir im Letzigrund (noch) nicht…

Nein, aber das Essen im Oval ist trotzdem fein (lacht).  

Wie bist du durch den Winter gekommen?

Ich war richtig fit. Das hat mir der Saisoneinstieg in Magglingen gezeigt (Indoor-PB in 46,27 – die Redaktion). Zwei Tage später legte mich aber eine Magen-Darm-Grippe flach. Nach zwei Wochen fühlte ich mich wieder okay und ich wollte die neuen Spikes im Training testen. Prompt entzündete sich das Gewebe zwischen Achillessehne und Peroneus-Sehne.

Nach der Indoor-Bestzeit über 400 m (Bild: athletix.ch)

Trotzdem hast du als Titelverteidiger Bronze an der Hallen-SM über 60 m geholt und bist an der Hallen-EM noch über 400 m gestartet…

Ja, ich wollte es zumindest versuchen, spürte aber schon beim Einlaufen, dass ich in Istanbul wohl nur einmal werde laufen können. Am nächsten Tag war der eine Fuss fast doppelt so dick wie der andere. Danach habe ich einen Monat ausschliesslich im Kraftraum und auf dem Velo trainiert. Seit dem April-Trainingslager in Belek absolviere ich auch wieder kürzere Läufe. Ich hoffe – und glaube fest –, dass ich im nächsten Trainingslager den Laufumfang weiter steigern kann und im Sommer wieder bei 100 Prozent sein werde.  

Nach dem vorzeitigen WM-Aus in Eugene 2022 stehen in Budapest (19. bis 27. August) erneut Weltmeisterschaften an. Was hast du dir vorgenommen?

Mit der WM habe ich noch eine Rechnung offen. Schon an der U20 schaffte ich es «nur» in den Halbfinal, nicht aber in den Final. Diesen Sommer will ich endlich den nächsten Schritt machen.

Letztes Jahr warst du die Nummer 2 Europas, entsprechend gestiegen ist die Erwartungshaltung. Spürst du nun mehr Druck?

Eigentlich nicht. Im Gegenteil: Der zweite Platz motiviert mich eher, zu zeigen, dass man als Europäer auch auf der Weltbühne mitlaufen kann.    

Die Nummer 2 Europas (Bild: athletix.ch)

Wann fällt der Schweizer Rekord deines LCZ-Vorgängers Mathias Rusterholz (44,99)?

Gute Frage. Klar: Ich will den Rekord brechen. Doch mein Ziel ist es primär, Rennen zu gewinnen. Denn wenn ich Rennen gewinne, dann kommt irgendwann auch die Zeit.

Wen sehen wir vorher: Europameister oder Weltklasse Zürich-Sieger Ricky Petrucciani?

Europameister, denke ich. 2024 findet die EM in Rom statt und ich weiss, dass Davide (Re) zu Hause gewinnen will. Natürlich würde ich ihm den Titel unter Freunden gönnen. Ich habe ihm aber auch gesagt, dass ich nach München ein Medaillen-«Upgrade» anstrebe. 2025 ist die WM in Tokio und der Final der Diamond League wieder in Zürich. Das wäre doch ein guter Zeitpunkt für einen Sieg im Letzi (lacht)…    

Hast du noch andere sportliche Träume, die du mit uns teilen magst?

Mein Traum wäre es, als erster Europäer die magischen Grenzen zu durchbrechen: die 100 m unter 10, die 200 m unter 20 und die 400 m unter 44 Sekunden.

So schnell ist noch kein Schweizer gesprintet.

Stimmt, aber Willi (Reais) wird über 200 m bald noch schneller sein. Mit einer 19 vor dem Komma wäre ich für mich schon zufrieden (lacht). Dafür muss ich aber definitiv mehr 200er trainieren…

Angenommen, in unserem SVM-Team fallen diverse Leistungsträger aus: In welcher Disziplin würdest du lieber einspringen: 800 m oder 400 m Hürden?

Puh, eher 800 m. Meine Hürdentechnik ist katastrophal.  

EM-Podest in Rom oder Olympiafinal in Paris 2024?

Schwierig, aber ich würde die EM-Medaille nehmen – am liebsten Gold vor Davide (lacht).

AC Milan oder Inter Mailand? 

Milan. Viele meiner Kollegen sind ACM-Fans. Ausserdem habe ich mein erstes Livespiel im San-Siro-Stadion erlebt.

AC Bellinzona oder FC Lugano?

Mein Lieblingsfussballklub ist Real Madrid. Eigentlich verfolge ich neben der Leichtathletik und der NBA – mein Team sind die Golden State Warriors – im Fussball nur noch die Champions League. Im Tessin ist die Verbindung zu Bellinzona auch wegen des Leichtathletik-Stadions grösser. Hier finden dieses Jahr die Schweizer Meisterschaften statt und bei der Galà dei Castelli durfte ich schon gegen drei Olympiasieger – Wayde van Niekerk, Kirani James und LaShawn Merrit – antreten. Unvergesslich!   

Pizza oder Pasta?

Pasta.

Und wo gibt’s die beste Pasta in Zürich?

Natürlich kann ich als LCZler nur «Da Cono» sagen. (lacht)

(MAS)