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«Verschiesst euer Pulver nicht zu früh»
Erst mit 22 Jahren zur Leichtathletik gekommen, gehört Andreas Baumann, Jahrgang 1979, zu den Unikaten des LC Zürich. Mit elf nationalen Einzelmedaillen (sechs indoor, fünf outdoor) und diversen internationalen Staffel-Einsätzen hat der dreifache Schweizer Elite-Meister und spätere Sprinttrainer (unter anderem von Philipp Handler) bewiesen, dass man auch als «Spätzünder» noch durchstarten kann. Das spüren inzwischen auch die Bahnradsprinter…
Interview: Manuel Stocker
Bilder: athletix.ch, Weltklasse Zürich und LCZ

Spoiler: Zum Athleten Andi Baumann kommen wir noch. Was war dein schönstes Erlebnis als Trainer?Der Schweizer Hallentitel von «Sugi» (Suganthan Somasundaram vor Florian Clivaz und William Reais 2018 – die Red.) hat sicher einen besonderen Platz in meinen Erinnerungen, auch wenn ich mir im selben Final den Hamstringmuskel komplett abgerissen hatte. Sonst hätte ich als «Spielertrainer» eine Medaille geholt, davon bin noch heute fest überzeugt. International war es die Reise mit Phil (Philipp Handler) an die Para-WM 2024 nach Kobe (Japan) – auch im Wissen, dass es seine letzte WM sein werden könnte.
Du hast Philipp Handler (zum Interview mit dem Parathleten) von 2019 bis heute gecoacht. Was zeichnet ihn aus, worin unterscheidet ihr euch?
Phil ist bestimmt akribischer als ich. Ein Denker, während ich vielleicht auch mal was mache, ohne gross zu überlegen. Phil hat – und da sind wir uns gleich – neben dem Sport immer gearbeitet und sich ein zweites Standbein aufgebaut. Seine Disziplin und Beständigkeit sind unglaublich. Ich erinnere mich jedenfalls kaum an ein Training, das er «unverletzt» ausgelassen hat. Als Mensch bewundere ich ihn, wie er durchs Leben geht. Etliche Athleten staunen, wenn sie erfahren, warum er eine Sonnenbrille trägt. Trotz Sehbeeinträchtigung gibt sich Phil ganz «normal», ist immer korrekt, anständig und einfach ein feiner Kerl. Politisch nicht ganz korrekt habe ich sogar behauptet: «Irgendwann kommt es raus: Er hat gar keine Sehschwäche!» (lacht)

Phil gab Anfang März 2025 seinen Rücktritt als (Para-)Leichtathlet. Sieht man dich trotzdem weiterhin im Letzigrund?
Ich habe schon länger mit dem Gedanken gespielt aufzuhören. Doch solange Athleten auf mich zukommen und mich um Rat fragen, helfe ich gerne. Nach Phils Rücktritt betreue ich leider keine LCZler mehr, das war wegen der Planbarkeit nicht möglich. Aktuell sind dies Jean-Paul Bitschnau und Mario Aeberhard (Bob-Nachwuchskader, sein Vater trainierte schon bei Baumann), Dominik Bruno (LV Albis) und Simona de Silvestre (ehemalige Sauber-Testfahrerin). Insofern setze ich die Tradition der gemischten Trainingsgruppe aka «Athleten-Auffangbecken» meines Trainers Stefan Burkart (1957 – 2020) fort. Wir schätzen es sehr, dass wir die Top-Infrastruktur nutzen dürfen, wissen, dass wir im Letzi Gast sind und die LCZ-/NLZ-Trainings Priorität geniessen.
Und als Athlet – wann machst du Feierabend?
Mir ist klar, dass ich in meinem Alter (46) keine PB mehr laufen werde. Die Freude ist jedoch ungebrochen. Und ja: Die SM 2026 im Heimstadion würde mich sehr reizen. Das wäre doch ein schöner Abschluss. Ob ich die Limite noch schaffe, steht hingegen auf einem anderen Papier. Die Hallen-SM-Limite verpasste ich um 6 Hundertstel. Über 100 m wird’s sicher nicht einfacher nach der Entwicklung in den letzten Jahren…

Neben Mujinga Kambundji wärst du jedenfalls der einzige Sprinter, der vier Aktiv-SMs (2009, 2017, 2022 und 2026) im neuen Letzigrund erlebt hätte. Was treibt dich an?
Zuerst einmal habe ich immer noch Spass an dem, was ich tue. Ich bin stolzer Götti von zwei Kids, die mir unendlich viel Freude bereiten. Hätte ich eigene Kinder, würde ich wahrscheinlich noch mehr Lego spielen und den Sport anders gewichten. (lacht) Zum Glück bringt meine Partnerin Verständnis dafür auf, obwohl sie nicht aus der Leichtathletik-Bubble kommt.
Du warst von 2005 bis 2009 dreimal Schweizer Meister und nahmst an Welt- und Europameisterschaften teil. Welches war dein schönstes Erlebnis?
Die SM-Titel waren schön und gut fürs Ego, aber zwei Momente haben sich besonders ins Gedächtnis eingebrannt: Zum einen Weltklasse Zürich 2007 mit der 4×100-m-Nationalstaffel (Andreas Baumann, Marc Schneeberger, Marco Cribari, Andreas Kundert). Als die «Hopp Schwiiz»-Rufe durchs volle Stadion hallten, ging das brutal unter die Haut. Man kam sich vor wie ein kleiner (Rock-)Star. Zum anderen der Einzelstart im 100-m-Hauptprogramm des ISTAF Berlin. Die Menschenmenge im Olympiastadion war damals «abartig». Heute ist es zumindest in Deutschland anders.

Wie bist du Leichtathlet bzw. Sprinter geworden?
Als Kind besuchte ich die Jugi beim TV Bülach. Nachdem ich meinen Job als Key Account Manager bei Microsoft begonnen hatte, suchte ich mir einen Ausgleich. So kam ich aufs Sprinten. Grössenwahnsinnig wie ich bin, meldete ich mich einfach beim LCZ, schon damals die ruhmreichste Leichtathletik-Adresse des Landes. Stefan Burkart hatte mit mir Erbarmen und meinte nach ein paar Monaten Zwängerei, ich solle mal vorbeischauen. Meine Technik war recht unkonventionell. Das Gleiche galt für die Trainingsgruppe – unter anderem bestehend aus Gregor Stähli (Skeleton-Weltmeister) und Martin Annen (dreifacher Olympia-Medaillengewinner im Bobsport).
Im Bob-Weltcup bist du später auch noch gelandet…
Ja, 2017 fing ich als Anschieber bei Pius «Billi» Meyerhans an. Davor hatte es vereinzelte Einsätze im Europacup und an Schweizer Meisterschaften gegeben. Zehnkämpfer und Digitec-Gründer Marcel Dobler (heute St. Galler Nationalrat) sass ebenfalls im sogenannten «A-Team». Noch heute gebe ich mir ab und zu eine «Taxifahrt» in St. Moritz. Die Fliehkräfte von 4 bis 5 g in der «Horse Shoe»-Kurve sorgen für reichlich Adrenalin.

Würdest du dich als Adrenalinjunkie bezeichnen?
Schon, ja. Geschwindigkeit löst etwas bei mir aus. Wahrscheinlich würde ich mich auch mal in einen Düsenjet setzen, wenn ich die Möglichkeit hätte. Noch lieber bringe ich mich allerdings mit eigener Körperkraft voran.
Neuerdings auch mit Ambitionen auf zwei Rädern…
Ich hatte schon immer eine Faszination fürs Radfahren. Zu den legendären Militärsport-Wiederholungskursen in Magglingen nahm ich immer das Downhill-Bike mit, um ein paar Trails zu shredden. Dann kam ein Rennrad dazu, dann ein Enduro-Bike, dann eine Zeitfahr-Maschine und zuletzt noch ein Bahnrad. Übrigens nicht irgendeines, sondern das von Olympiateilnehmer und Giro-Etappensieger Mauro Schmid. Aber unterdessen habe ich ein schnelleres gekauft. (lacht)

Wie kommt man von der Leichtathletik-Bahn aufs Bahnradoval?
Vor drei Jahren habe ich einen Bahnrad-Kurs in Grenchen absolviert und fand das mit dem Starrgang noch cool. Dort traf ich auch den früheren dänischen Weltmeister Joachim Ritter. Dieser hat mich in die Welt des Bahnradsports eingeführt. Inzwischen trainiere ich einmal pro Woche in seiner Gruppe in Grenchen. Bei Taktik und Laktaktverträglichkeit habe ich noch sehr viel Potenzial. Als Sprinter kann ich zwar bis zu 1800 Watt drücken, aber nur für kurze Zeit und schon gar nicht mehrmals hintereinander.
Dabei wärst du mit deiner 60-m-Saisonbestzeit von 7,21 Sekunden doch auch ein heisser Medaillenkandidat an Masters-Leichtathletik-Meisterschaften.
Ironischerweise machen Masters-Wettkämpfe in der Leichtathletik nichts mit mir. Aktuell würde ich mit meinen Zeiten wohl Schweizer Meister werden. Da fehlt mir die Herausforderung. Im Bahnradsport hingegen hat es mir letztes Jahr den Ärmel reingenommen. So ein Masters-Regenbogentrikot (für den Weltmeister) wär schon noch hübsch. Mein grösstes Ziel habe ich aber erreicht. Denn welcher Schweizer Sprinter kann schon Rad-SM-Fotos von Ulf Schiller vorweisen? (lacht)

Was ist eigentlich «intensiver»: ein 60-m-Sprint mit 40 km/h oder ein 1000-m-Zeitfahren mit knapp 60 km/h?
Den ganzen Sprintprozess finde ich noch immer faszinierend – vom Aufwärmen über die Vorspannung bis zum Adrenalinausstoss beim Start. Alles konzentriert sich auf diese sieben Sekunden. Würde ich dafür noch einmal ans «End der Welt» fahren? Na ja, wenn der Ertrag eine verpasste SM-Limite ist, wahrscheinlich kaum. Handkehrum kann eine Minute mit 700 Watt auf dem Rad verdammt lang werden. Man leidet viel mehr, viel länger und viel intensiver. Ich würde es mit einem 800-m-Lauf vergleichen, also eigentlich nichts für alternde «Sprinter». Dafür sind die «200 m fliegend» (Bahnrad-Einzelsprint) wie zugeschnitten auf meine Fähigkeiten.
Was bedeutet der LCZ für dich?
Der LCZ hat mich als Quereinsteiger von Anfang an aufgenommen und machen lassen. Erst als Athlet, dann als Trainer. Ich mag die umgängliche Art. Alle arbeiten konzentriert und leistungsorientiert. Und steht man sich auf der Bahn mal im Weg, findet man stets eine Lösung. Der kollegiale Aspekt bleibt nicht auf der Strecke. Trotzdem bin ich froh, muss ich als Gin-Tonic-Typ nicht nach jedem Training ein Bier mit den Jungs trinken gehen. Dafür gibt’s den Turnverein… (lacht)

Mit der Schweizer CISM-Delegation in Indien (von links): LCZ-Sprinter Andreas Baumann, Sportpsychologe Jörg Wetzel, LCZ-Speerwerfer Felix Loretz, Komm-Betreuer Manuel Stocker, 800-m-Duo Christian Niederberger (LCZ) und Adrian Wüest sowie LCZ-Viertelmeiler Philipp Weissenberger
Oder das Militär…
Ich hatte das Glück, meinen Dienst am Vaterland im Rahmen des CISM (Conseil International du Sport Militaire) zu leisten. Dessen Motto lautet «Friendship through Sport». Dieses Credo haben wir 2007 an den World Military Games in Hyderabad (Indien) auch off the track gelebt. Bis zum Trikottausch mit chinesischen und nordkoreanischen Kampfbahnathleten. An uns Schweizer CISM-Soldaten liegt es jedenfalls nicht, dass die aktuelle Weltlage so ist, wie sie ist.
Welchen Ratschlag würdest du der nächsten «Generation (LC)Z» mit auf den Weg geben?
Gebt Gas, schwänzt keine Trainings, aber nehmt es in jungen Jahren nicht zu ernst. Es gibt auch noch ein Teenie-Leben neben dem Sport. Gerade in der Leichtathletik sollte man seinen Leistungspeak nicht zu früh erreichen. Im Gegenteil: Wer schon als Jugendlicher wie ein zukünftiger Weltmeister und Olympiasieger trainiert, wird kaum bis 25, 30 Jahren durchhalten. Man muss ja nicht so spät einsteigen wie ich. Doch es hilft, wenn man sein ganzes Pulver nicht schon im Nachwuchs verschossen hat und dann beim Wechsel von der U23 zur Elite buchstäblich überrannt wird…

Schweizer Meister Andreas Baumann «in his early years»